Dancer in the Dark: Stilistisch modernes, in Motiven und Erzählweise klassisches Musical von Lars von Trier um das tragische Schicksal einer alleinerziehenden Mutter.
Mit einem stilistisch ultramodernen, in Motiven und Erzählweise klassischen Musical schließt Lars von Trier nach „Breaking the Waves“ und „Idioten“ seine, wie er es nennt, „Golden Heart“-Trilogie ab. Im Mittelpunkt steht erneut eine Frau aus schlichten Verhältnissen, deren Liebe und Güte auch im schrecklichsten Leid nicht zerbrechen. Der isländische Popstar Björk ist in der Hauptrolle die ebenso ungewöhnliche wie perfekte Besetzung in einem ergreifenden Melodram, das im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes Kritiker und Zuschauer polarisierte. Die Jury unter Vorsitz von Luc Besson konnte jedenfalls die Begeisterung teilen und zeichnete „Dancer in the Dark“ mit der Goldenen Palme und Björk mit dem Preis als Beste Darstellerin aus.
Triers Regie hat seit „Breaking the Waves“ und besonders nach seinem Dogma-Beitrag „Idioten“ zu jenem semi-dokumentarischen, nervös jede Szene in zahlreiche Fragmente zerlegenden Stil gefunden, der den Schauspielern keinen unbeobachteten Moment zu gönnen scheint und den lebensnahen Look eines Home-Movies ganz bewusst einsetzt. Der Däne selbst bedient hier für seinen langjährigen Kameramann Robby Müller die kleine DV-Kamera, und besonders in den ersten Minuten reißen die schwankenden, zwischen den Dialogpartnern hin-und-her-zuckenden Bilder den Zuschauer aus seinen Sehgewohnheiten: Das soll ein Musical werden?
Und was für eines! Die Geschichte spielt in einer kleinen Arbeitersiedlung in Washington Mitte der 60er Jahre, wo Selma (Björk), die Filmmusicals und Tanz liebt, für sich und ihren kleinen Sohn an der Stanzmaschine in einer Fabrik ein Auskommen sucht. Der triste Realismus des sozialen Ambientes erinnert sofort an die Dokumentarfilme jener Zeit, etwa von den Maysles-Brüdern, doch dass Trier hier noch eine ganze Menge mehr vor hat, zeigt sich schon in seiner Besetzung von Catherine Deneuve in der Rolle von Selmas mütterlicher Freundin. Der Glamour und die Eleganz der Deneuve lassen sich auch durch die farbbleiche digitale Qualität der Bilder nicht tilgen, genauso wie die Geschichte sich bald zu einer gefühlsprallen Tragödie entwickelt, in der von Trier ohne zu zwinkern das reinste, schönste Pathos findet. Nach gut zwanzig Minuten, in denen bis auf die der Vorführung vorangestellte Overtüre nichts auf ein Musical hindeutete, kommt schließlich die erste von sieben Gesangsnummern, und mit ihr öffnet sich der Film zu einer ganz anderen Welt: Selma weiß, dass sie am Erblinden ist, und sucht in zunehmender Dunkelheit nach der Musik in den Dingen, zu der sie sich in ihre Lied-Phantasien flüchten kann. Das Stampfen der Maschinen, die hängengebliebene Nadel eines Plattenspielers, schließlich sogar ein übers Papier kratzender Stift entlocken der Situation plötzlich einen Rhythmus, in den Selma mit ihren Songs einfällt. Dann erblühen die Farben auf der Leinwand, der Alltag wird zur Tanzbühne, und Haupt- und Nebendarsteller bewegen sich nach einer wunderbaren Choreografie. Dieses Kontrastprogramm ist auch bitter nötig, denn wie in jedem guten Melo schlägt das Schicksal auch bei Selma mit dem ganz großen Hammer zu: Weil sie ihr Augenleiden auch an ihren Sohn vererbt hat, hat sie sich für dessen Operation an seinem 13. Geburtstag im Laufe der Zeit das Geld vom Munde abgespart und gut versteckt. Als ihr heimlich verschuldeter Nachbar Bill, ein liebenswürdiger Cop (David Morse), in seiner Verzweiflung Selmas Vermögen stiehlt, kommt es zu einer Rangelei, bei der sich ein Schuss löst. Die Situation wird missverstanden, und Selma, die ihr Versprechen, niemandem von Bills Schulden zu erzählen, auch nach dessen Tod nicht brechen will, kommt nach kurzer Flucht als Raubmörderin vor Gericht. Lars von Trier bat in einem dem Presseheft beigelegten Schreiben die Journalisten, das Ende nicht zu verraten, deshalb sei seinem Wunsch auch an dieser Stelle entsprochen.
„Dancer in the Dark“ ist ein in jeder Hinsicht aufsehenerregender Film. Wie von Trier es schafft, mit seinem scheinbar undisziplinierten Kamerastil fast von seinem ausgezeichneten Drehbuch abzulenken, das, dem Genre entsprechend, nicht an Überraschungen und unfassbar tragischen Wendungen spart, fällt einem tatsächlich erst auf, wenn man längst mitten in der Geschichte gefangen ist und die Passion dieser kleinen tschechischen Einwanderin Selma durchleidet. Björk, die sich als Musikerin in den 90er Jahren den Ruf eines internationalen Popstars erworben hat, ist schlicht hinreißend in der Hauptrolle. Viel wurde geschrieben von Streitigkeiten und Skandalen auf dem Set, und auch die Erklärung von Triers bei der Pressekonferenz in Cannes, Björk habe ihren „extrem schmerzhaften“ Part mangels Schauspieltraining körperlich und seelisch real durchleiden müssen, dürfte dem Film als begleitendes word of mouth nicht schaden. Die Songs der isländischen Sängerin, die sich in den letzten beiden Jahren musikalisch ohnehin rar gemacht hat, stehen ihren bisherigen Hitalben in nichts nach, und die Neugier der Plattenkäufer des Soundtracks wird sich mit Sicherheit auf den Film übertragen lassen. „Dancer in the Dark“ dem jungen, popkulturell aufgeschlossenen Publikum zu verkaufen, mag vom Verleih eine etwas sensiblere Hand erfordern, doch hat dieses bewegende, aufregende Kinojuwel mit Sicherheit das Potenzial, sich aus dem Arthaus heraus auch in die Herzen des Mainstream-Publikums zu tanzen. evo.