Im nächsten Leben mach ich alles anders, sagt Vater Wolfgang; doch die Tochter Margitta weiß: Du bist seit 18 Jahren in deinem nächsten Leben, und du hast nichts anders gemacht. Doch: du hast keine Familie mehr.
In seinem ersten Leben war Wolfgang Kerber der Leibfotograph von Erich Honecker gewesen, viele Privilegien, viel unterwegs, und seine Familie hat zuhause als Faustpfand für seine garantierte Rückkehr herhalten müssen. Jetzt ist Kerber der rasende Reporter für das Berliner Blatt, Bereich Berlin Brandenburg Sachsen-Anhalt. Er ist immer noch viel unterwegs, doch jetzt wartet keiner mehr auf ihn zuhause. Sein zweites Leben ist genauso erbärmlich wie sein erstes; nein, noch schlimmer: er hat keine Privilegien mehr.
Kerber jagt den kleinen Geschichten hinterher, die den Lesern Hoffnung geben sollen; das heißt: er verbraucht pro Monat 1500 Euro an Spesen und die Arbeitskraft seiner Redakteurin für 50 Druckzeilen. Kann dabei nicht mal selber seine Artikel schreiben, und die Bedienung von Laptop und Digitalkamera überlässt er seinem Freund, Ex-Kollegen und Informant mit Polizeifunkabhöranlage. Mit Guten Tag oder Danke hält er sich dabei nicht auf.
Sein Leben ist scheiße, aber das will er nicht wahrhaben. Er ist total out, beruflich wie privat, ohne es zu merken. Mit der Tochter schweigt er sich an, am Grab der Mutter oder bei einem monatlichen kurzen Treffen im Café, oder er ergeht sich in Floskeln, oder er sondert die subtile Feindseligkeiten eines verkappten Zynikers ab.
Aus uneingestandener Verzweiflung braucht er einen Scoop, und da kommt gerade recht, dass seine Tochter, eine Lehrerin, ihm von einem vermissten Mädchen erzählt. Er recherchiert und weiß auch gleich, wer Schuld ist: die bösen Buben einer Gang, die Verkörperung der Verrohung der nachwachsenden Generation. Aus diesem Milieu will er sein Hoffnungs-Happy-End herauskitzeln, und er sucht sich seine Puzzleteile zusammen. Wenn sie nicht passen, sägt er sie zurecht und presst sie dann in das Bild, das er haben will. Und das nur in seinem Kopf ent- und besteht. Er beutet seine Tochter aus und macht sich auf die Jagd nach der Jugendbande, die in sein Weltbild passt eines von Hoffnungslosigkeit geprägten Landes, das in Resignation versinkt. Ohne zu merken, dass er damit lediglich seine eigenen Befindlichkeiten nach außen überträgt.
Er braucht eine Welt, die so aussieht, denn für sie schreibt er, ihr will er Hoffnung geben mit den positiven Ausgängen seiner kleinen Alltagsgeschichten. Wäre die Welt anders, verlöre alles seinen Sinn; und so konstruiert er sich seine Welt und seine Leserschaft, weil nur das ihm Kraft gibt ohne sie könnte er nicht bestehen, auch, wenn sie nur in seiner Illusion existieren.
Also baut er sich seine Story um die vermisste Schülerin zusammen, weil die genau auf seine Sicht der Dinge passt, weil aus ihr eine Hoffnungsgeschichte werden kann, von der er glaubt, dass die Welt sie braucht; aber vor allem braucht er selbst sie
Nur: als er die Vermisste findet, verweigert die ihm sein Happy End, lässt seine Illusion platzen. Nicht, weil die Welt nicht böse wäre, hoffnungslos und resigniert. Aber sie ist eben nicht seine Welt; nicht mehr sein Leben. Die Welt lässt sich von ihm nicht so machen, wie es ihm gefällt.
Vater-Tochter-Konflikt und eine belastete Vergangenheit, ein verlorenes Leben in den neuen Ländern und das verzweifelte Verlangen nach irgendeinem Halt im Leben vermischt Regisseur Mittelstaedt zu einem Film, der sowohl Einzelporträt eines Entfremdeten ist als auch Gesamtschau über Befindlichkeiten eines Landes, das in ein zweites Leben gepresst wurde. Das erste Leben, vor der Wende, das hält Kerber heilig, will es nicht antasten für die Enthüllungsmemoiren des Freundes über das Privatleben der Bonzen damals.
Und über allem steht der Krebstod der Ehefrau: Hätte der verhindert werden können, wenn man mehr Familie gewesen wäre? Wenn man mehr miteinander gesprochen hätte? Wenn Wolfgang Kerber mehr da gewesen wäre, mehr Vater gewesen wäre?
Fazit: Psychologisch genaues Porträt eines in einem illusionären Leben gefangenen Verlierers.